Was
denkst Du über Kolumbien? Was denke ich über Kolumbien und wie ist
es nun wirklich?
Regelmäßig
erreichen Schreckensmeldungen deutsche Nachrichtensender, Morde,
riesige Drogenlandungen verschwinden im Hamburger Hafen, direkt aus
Kolumbien importiert, und immer wieder die schlechte Nachricht, wenn
die Guerilla, die kolumbianische Drogenmafia, wieder an Stärke
gewinnt.
Im
Gegensatz dazu erzählen wir von wunderschöner Natur, von Menschen,
die so viel Positives in sich tragen, ihr Hab und Gut mit uns teilen,
obwohl es oft nur wenig ist; oder von dem tanzenden Volk, das sich so
wunderbar bewegen kann und die Emotionen mit jedem Tanz nur so heraus
sprühen.
Ja,
tatsächlich hat dieses Land beide Seiten, die erschreckende, aber
auch die wunderschöne. Wenn man zum ersten Mal hier in diesem fernen
Land ist, erscheint einem alles wie in einem Traum. Mir hat so vieles
sofort gefallen, doch ich glaube, viele Sachen habe ich mir
schöngeredet, habe mich vielleicht von den Kolumbianern anstecken
lassen und mich über das gefreut, was gut ist, doch nach und nach
passieren Dinge, die mich wach rütteln, die einem sagen, wo wir
sind: in einem Zentrum der Bandenkriege, der Armut und der Gewalt.
Manchmal sagen wir, wir sehen alles, aber doch nichts. Wir sind hier
und können alles mit eigenen Augen anschauen, aber so vieles
passiert hinter den Kulissen, hinter dem Schleier, der uns
vorgehalten wird. Gerade in dieser Zeit steigt die Arbeitslosenzahl
sehr hoch, weil viele Menschen Jahresverträge haben und die jetzt
auslaufen.
Für
uns Deutsche ist das alles manchmal sehr schwer zu spüren. Mehrmals
wurde nachts an unserer Tür gerüttelt, am Anfang blieb einem noch
das Herz stehen, beim dritten oder vierten Mal wartet man nur noch,
bis es vorbei ist. Eine von uns wurde schon früh morgens ausgeraubt.
Auf den Straßen begegnen einem die hungernden Blicke der
Heimatlosen, die auf dem Boden bei den Ameisen liegen und nach Wasser
fragen. Diejenigen von uns, die in Siloé, einem der ärmsten Viertel
Calis, arbeiten, bekommen noch mehr von der Gewaltrealität mit.
Schießereien, Menschen, die mit blutverschmierten Augen verschwinden. Neulich ist wieder ein zwölfjähriges Mädchen aus
versehen erschossen worden, es stand zur falschen Zeit am falschen
Ort. Ist es normal, dass in einer Woche in einer Stadt von 2,6
Millionen Einwohnern vierunddreißig Menschen ermordet werden?
Natürlich nicht, aber hier ist es die Realität, vielleicht sogar
die Normalität.
Als
ich im ersten Monat gefragt habe, warum ich nicht alleine von meiner
Arbeitsstelle zum Jeep laufen darf, mit dem ich nach hause fahre,
obwohl es ein Fußweg von zwei Minuten ist, wurde mir so einiges
bewusst: Ich arbeite in einem Ort, in dem Auftragsmörder wohnen. Sie
sind noch nicht einmal teuer. „Letzte Woche wurde wieder jemand
hier ermordet, aber das passiert natürlich nicht immer“, wurde mir
erzählt. Und hier sollte ich nun tagtäglich arbeiten? Ja, und nun
ist es schon so normal, die Menschen kennen und grüßen mich, die
Kinder freuen sich, mich auf der Straße zu sehen, die Mütter
lächeln einen dabei an, was sie sonst nicht tun würden, wenn ihre
Kinder nicht so vertraut mit mir wären. Ich fühle mich tatsächlich
inzwischen sehr wohl hier in Bellavista, dem Ort in dem ich arbeite.
Mit
den Kindern meiner Einsatzstelle rede ich viel über ihre Familien.
Manchmal überlegen wir, wie die Menschen mit den Gefahren und den
Geschehnissen zurecht kommen und inzwischen wissen wir: Der Mensch
ist ein Gewohnheitstier, aber er kommt damit nicht zurecht. Doch
diejenigen, die an der politischen und sozialen Situation etwas
ändern wollen, können es nicht, und die, die etwas ändern könnten,
wollen es nicht. Wo sollte man also anfangen? Mit drei Jungs aus
meiner Freiwilligengruppe war ich zusammen mit der Einsatzstelle des
einen auf einem Ausflug. Es ist eine Fundacion, die sich um
Jugendliche und junge Erwachsene kümmert, die nicht mehr zur Schule
gehen und keine Zukunftsperspektive mit Arbeit finden können. Davon
gibt es viele hier, sehr viele, aber für ein paar von ihnen lassen
sich Wege finden, die aus der Zwickmühle zwischen Armut,
Kriminalität und Gewalt herausführen. Wir sind mit dem Bus in einen
Freizeitpark gefahren, haben dort Fußball und Tischtennis gespielt
und sogar baden konnten wir in einem großen Pool. Doch nach einer
Busfahrt mit der Gruppe sind mir fast die Ohren abgefallen. Ich denke
darüber nach, warum erwachsene Menschen zwischen 20 und 30 Jahren so
unglaublich laut sind und ich mich wie auf einer Klassenfahrt nach
einer zehnstündigen Busfahrt fühle. Und warum sind die Kinder aus
meiner Musikschule so anders, so ruhig und konzentriert, obwohl viele
vergleichbare Dinge schon im Kindesalter erlebt haben. Wir können
stundenlang ruhig auf einen Auftritt warten oder ein zweistündiges
Konzert spielen, ohne, dass jemand anfängt, herumzubrüllen.
![](https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEippMTFn8QFiBUAOkxaZpmaOZNljUj8HSW1ERKynsMlnapgVp980NkiX5T60xiK7FdQR8jNcsvsopZLD28Fa2dgG5kgjpmGnKC29noPM73E_BDvMbygMm2bj-whbzorVscjovR2n-gixpr-/s1600/IMG_3924.JPG) |
Ferienentlassungsfeier im Colegio de las Aguas Montebello |
Ich
glaube, es ist die Musik, die die Kinder so verändert, die sie so
verantwortungsvoll und selbstkontrolliert erscheinen lässt. Dadurch,
dass sie Wertschätzung erleben, können sie das anderen gegenüber
weitergeben. Das Gefühl, wichtig zu sein, denn in einem Orchester
ist jeder unverzichtbar, gibt den Kindern und Jugendlichen so viel
Selbstbewusstsein, um für ihre Zukunft zu kämpfen und sie in die
eigene Hand zu nehmen. Jemand anderes übernimmt das nicht, denn die
Eltern sind selbst dem ständigen Kampf um Arbeit ausgesetzt. Es
gehört zur Normalität, dass Kindern die Eltern fehlen, besonders
oft bekomme ich zu hören, dass ein Vater nicht mehr da ist. Der Satz
eines Lehrers hat es auf den Punkt gebracht: „Die Frauen müssen um
die Männer kämpfen, denn es gibt nur wenige von ihnen“. Dabei hat
er gelacht. Erst war ich nicht ganz sicher, was er damit meinte, aber
schnell wurde mir sehr bewusst, wo all’ die Männer hin sind...
Noch nicht lange ist es her, da habe ich mit einer Schülerin
geredet, Smalltalk über die Familie. Dass sie ungefähr zwanzig
Cousins und Cousinen hat, aber nur eine Tante, machte keinen Sinn,
doch dann fiel ihr noch ein, dass sie einmal zwei Onkel hatte, die
aber nicht mehr leben. Sie erklärte es mir so: „Drogas“. Was
genau dahinter steckt, weiß ich nicht.
Die
Kinder aus meiner Fundación sind mir inzwischen sehr ans Herz
gewachsen. Ich habe die Hoffnung, dass aus ihnen andere Menschen
werden. Menschen, wie sie es in diesem Moment gerade sind, wenn die
Zukunft noch nicht in ihren Händen liegt. Manche träumen davon,
Musik zu studieren, andere wollen zur Marine oder Koch werden. Oft
hört man, „Ich will studieren“, doch das ist sehr schwierig,
wenn man aus armen Verhältnissen stammt. Nur diejenigen, die die
besten Abschlusszeugnisse haben, dürfen sich für ein Stipendium
bewerben. Doch auch dann muss ein Eigenanteil aufgebracht werden, der
für viele nicht möglich zu machen ist. Für den Großteil der
Jugendlichen ist es noch unmöglicher zu studieren, weil sie die
Schule mit zu schlechten Zeugnissen beendet haben. Doch ich weiß,
die Kinder wissen wie man kämpft. Genauso, wie sie für ein Konzert
üben müssen, bei dem sie alle ein wichtiger Teil des Gesamtklanges
sind, müssen sie für ihre Zukunft kämpfen. Und das haben sie in
der Fundación Notas de Paz gelernt. Die Lehrer hier leben es ihnen
vor, motivieren sie, zeigen ihnen, wie man etwas erreicht. Und ich
bin froh, dass die Kinder von Bellavista das so erleben dürfen, denn
in den Schulen sieht es oft schon ganz anders aus.
Das
ist aber auch der Grund, warum ich mich oft überflüssig fühle.
Das, was ich vermitteln möchte, ist in dieser Fundación schon
längst Normalität. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit,
Eigenverantwortung und ein respektvoller Umgang sind die höchsten
Regeln und das ist gut und richtig. Daher sind meine Pläne, nach
Weihnachten, wenn die Ferien zu ende sind, mehr im Colegio de las
Aguas in Montebello zu arbeiten. Bis dahin werde ich die
Ferienbetreuung für die Kinder von Montebello mitgestalten. Die
Schule hat ein Interesse daran, den Musikunterricht dort weiter
auszubauen. Instrumente werden zum Teil von einer anderen Institution
gestellt, die von meinem Dirigenten des Orchesters hier in Bellavista
geleitet wird. Vielleicht kann ich das musikalische Fundament, das in
Montebello schon vorhanden ist, weiter mit ausbauen, um langsam dort
hinzuarbeiten, wo die Kinder der Fundación Notas de Paz schon sind.
Montebello ist eines der ärmsten Stadtteile Calis. Eine Familie mit
Kindern braucht dort in der Woche umgerechnet circa acht Euro für
alles, unvorstellbar aber wahr.
Bisher
gibt es schon Gitarren-, Flöten-, Cello-, Trompeten- und
Geigenunterricht. Gerade ist eine neue Spende von fünf E-Pianos
eingetroffen, die darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Es ist
ein Traum, dass sich bald auch dort die Klänge von verschiedenen
Instrumenten und Stimmungen mischen. Klaviermusik klingt gerade in
diesem Moment in meinen Ohren mit dem Trommeln einer Pauke und den
sich immer wieder wiederholenden Töne einer kleinen Geige. Genau
diese Pläne und Hoffnungen für Montebello teile ich mit vielen
anderen, nur ist der Musikraum noch nicht ganz fertig und an der
Ausstattung fehlt es ebenso. Dies ist der Raum, für den auch ihr
mitkämpft, indem ihr gespendet habt. Immer wertvoller werden all’
diese Spenden inzwischen, da ich mit eigenen Augen sehen kann, was es
bewirkt, Musik mit den Kindern zu machen. Ich bin sehr dankbar, dass
so viele Menschen uns vertrauen und es möglich machen, dass wir mehr
Raum schaffen, um Montebello zum Klingen bringen.
Musik
bedeutet Frieden und Zusammenhalt, eigene Stärke und Harmonie, die
Welt der Klänge bietet Raum für Umgänglichkeit und gegenseitige
Hilfe statt dem Kampf um die eigene Person, um das eigene Überleben
und das eigene Leben.