Freitag, 24. April 2015

Und der Alltag verfliegt

Schon seit Ewigkeiten habt ihr nichts mehr von mir gehört. Doch es hat sich über die Zeit so viel hier verändert, was nun auch schon wieder Alltag geworden ist. In meinem eigenen Zimmerchen in einer Familie im Stadtviertel El Lido, etwas weiter südlich von Cali, das ich mir mit Magdalena, einer besonders lieben Mitfreiwilligen, teile, fühle ich mich in unserem Chaos wohl, obwohl wir inzwischen einen ziemlich weiten Arbeitsweg von knapp einer Stunde nach Montebello haben.
Aber noch viel spannender ist meine momentane Arbeitssituation im Colegio de las Aguas, unserer wunderschönen Schule in Montebello. Ich habe mich inzwischen sehr gut eingelebt und habe viele verschiedene Aufgaben, von denen ich euch heute erzählen möchte.
Die meiste Zeit verbringe ich in meiner ersten Klasse gemeinsam mit Nancy, der Lehrerin. Die Klasse hat einige Kinder mit Lern- oder Konzentrationsschwächen, so zum Beispiel ein Mädchen mit Down-Syndrom, das besondere Aufmerksamkeit fordert. In meiner Klasse bin ich wirklich gerne, ich habe die Kinder sehr ins Herz geschlossen und verstehe mich sehr gut mit meiner lieben Lehrerin. Sie wird im Oktober nach Deutschland kommen, um ein Jahr, so wie wir hier, in einer Schule in der Nähe von Frankfurt Spanisch zu unterrichten. Dieses Projekt heißt Weltwärts-Reverse und ist das selbe, was wir machen, nur werden Menschen nach Deutschland entsendet, um dort eigene Erfahrungen zu machen und die Sprache zu lernen. Es ist ein sehr schönes Projekt und Nancy wird bestimmt ein spannendes Jahr in Deutschland verbringen. Wir beide haben auch schon angefangen, ein wenig Deutsch zu lernen.
Zurück zu meiner Arbeit: in meiner ersten Klasse und auch in der zweiten gebe ich den Englischunterricht, wobei die jeweiligen Lehrerinnen immer dabei sind und mich sehr liebevoll unterstützen. Das ist für mich ziemlich anstrengend, aber macht auch wirklich sehr großen Spaß. Es geht inhaltlich nur um die ersten, einfachsten Worte: Tiere, Farben, Familie oder Gegenstände im Klassenzimmer, sodass der Inhalt die kleinste Schwierigkeit ist. Vielmehr muss ich mir für den Unterricht pädagogische Methoden zur Motivation und zum Erlernen ausdenken, was nicht immer leicht ist, mir aber sehr gut gefällt.
Außerdem habe ich die letzte Woche mit meinem Deutschkurs in der Schreinerei angefangen. Die Themen passen wir hier auch den Interessen der Schüler_innen an, sodass wir uns mit den Vokabeln aus der Werkstatt beschäftigen, was Anna, die Vorfreiwillige, schon angefangen hat. Auch ich muss mich hinsetzen und Wörter wie „Kantenanleimer“ oder „Oberfräse“ auf Spanisch lernen.
Die Geigen- und Bratschenkinder haben inzwischen einen eigenen Lehrer, sodass ich Montag- und Mittwochnachmittags nun die Flötengruppe übernommen habe. Sie besteht aus ungefähr sieben Kindern aus den 4.-7.Klassen. Den Kurs darf man sich nicht so vorstellen wie vielleicht eine Flötengruppe in Deutschland. Alle Kinder spielen zusammen, ganz egal, ob sie gerade neu anfangen, oder schon seit einigen Jahren spielen. Das macht alles ziemlich kompliziert, weil man eigentlich zwei Gruppen auf einmal unterrichten muss. Wir haben trotzdem sehr viel Freude miteinander. Im Moment spielen wir ein Lied von der chilenischen Gruppe Inti Illimani, die andinische Folkloremusik macht. Danach möchte ich mit den Kindern gerne eine kleine musikalische Weltreise machen, um viele andere Länder mit ihrer fremden Musik kennenzulernen.
Am Freitag und Samstag hatten wir eine große Schulkonferenz, in der wir uns gegenseitig Projekte und Pläne für dieses Schuljahr vorgestellt haben. Es sind viele neue Ideen in mir entstanden, was ich die letzte Zeit hier noch machen und erreichen könnte. So steht als Erstes auf dem Plan, dass drei Freiwillige und ich in dem noch nicht fertigen Gebäude „La Vieja“ die Wände verputzen wollen, um den Bau ein bisschen voranzutreiben. Dafür haben wir uns nun erst einmal zwei Vormittage in der Woche Zeit genommen und hoffen, dass das Material so weit es geht reicht. La Vieja ist das Haus, in dem auch der Musikraum ist, den wir durch unsere Spenden unterstützen. Am 8.Mai werden wir dafür auch den geplanten Flohmarkt mit großer Unterstützung durch die Deutsche Schule Cali machen. Die Schüler_innen der Deutschen Schule haben viele Materialien, Klamotten und Spielzeug gesammelt, die wir gemeinsam, vielleicht auch mit eigenen Sachspenden, in Montebello verkaufen wollen. Die eingenommenen Gelder fließen dann in den Musikraum. Ein großes Dankeschön hier noch einmal an Dich, Robin, für Deine Hilfe!
Insgesamt ist es gerade wie immer wunderschön hier, ich fühle mich ein klein bisschen zu wohl in Cali, was es einem nicht leichter macht, sich Gedanken für danach zu machen. Ich weiß immer noch nicht, was ich studieren will, vielleicht hat ja jemand eine prima Idee?
Eine Sache sollte noch gesagt werden: Im März ist etwas sehr Besonderes hier in Cali passiert, was für mich wichtiger war, als man es sich vielleicht vorstellen kann. Man lebt hier sein Leben, sammelt Erfahrungen, gewöhnt sich an die unterschiedlichsten Dinge und beginnt sie zu lieben, teilt es mit vielen, vielen unglaublich lieben Menschen, erzählt es seinen Freunden in Deutschland, Australien und Afrika, aber niemand wird je verstehen, was mich hierher zurück ziehen wird, was ich an Kolumbien liebe und vermissen werde. Neben meinen Mitfreiwilligen wird es nur eine einzige Person mitempfinden können, die tatsächlich für vier Wochen um die halbe Welt gereist ist, um mich hier zu besuchen: mein Papa. An dieser Stelle möchte ich mich wirklich sehr bei dir bedanken, Papa, ich weiß nicht, ob du weißt, was mir Dein Besuch bedeutet hat.
Gemeinsam sind wir nach Buga und Salento gefahren. In Buga haben wir den Ort kennengelernt, in dem der Bambus aufgezogen wird, mit dem später zum Beispiel in meiner Schule gebaut wird. Ziemlich spontan sind wir noch in das Kaffeegebiet Salento gefahren, circa vier Stunden von Cali entfernt, in dem ökologischer Kaffee angebaut wird. Das war wunderschön und erholsam und wir beide hatten eine gemeinsame Zeit nur für uns, für Gespräche, und um Kolumbien einfach mal zu genießen, da wir in Cali nie so richtig Zeit hatten, weil mein Alltag wie gewohnt weiter gehen musste. Papa ich bin Dir wirklich unendlich dankbar, dass du mir diese Freude gemacht hast und wir nun eine gemeinsame, kleine Welt kennengelernt haben, die uns für immer verbinden wird. Danke!


Sonntag, 22. Februar 2015

Karneval der Schwarzen und Weißen in Pasto

„Wir sind umgeben von Kultur, Farbe, Papier und allem, was mit Kunst an sich zu tun hat. Zum Karneval zurückzukehren und mittendrin zu sein, ist eine Lebensart. […] Wir sind Kinder geblieben und als Kinder spielen wir weiter im Karneval.“
(Lichter und Schatten des Karneval, Germán Zaruma, im Artikel „Die Kunsthandwerker“ von Carlos Riascos Erazo)


Zu Beginn des neuen Jahres 2015 haben wir einen fünftägigen Ausflug in die kleine Andenstadt Pasto gemacht, die ganz in der Nähe von Ecuador liegt. Dort findet jedes Jahr ein ganz besonderes Ereignis statt, nicht nur, weil es ein Riesenspaß für alle ist, sondern weil der „Carnaval de Negros y Blancos“ (Karneval der Schwarzen und Weißen) eine besondere Bedeutung für die Verständigung zwischen allen verschiedenen Kulturen hat, die sich hier in Kolumbien über die Jahrhunderte gesammelt und vermischt haben. Dazu zählen nicht nur die Spanier, die Ende des 15.Jahrhunderts Kolumbien eroberten, sondern auch die Afrikaner, die zum Teil als Sklaven über den Karibikhafen in Cartagena nach Kolumbien gelangt sind. Nicht zu vergessen sind die ursprünglichen Kulturen, die die indigenen Völker, also die Ureinwohner Kolumbiens, schon vor allen kulturellen Einflüssen von außen gelebt haben.
Ursprünglich war das Ereignis ein Ritual der indigenen Dorfbevölkerung, damit der Gott des Mondes ihre Felder beschütze. Doch mit dem Einfluss der Spanier und der Schwarzen wurde das Fest mit der Zeit zu einem Karneval, der ein Zeichen gegen Diskriminierung setzen soll.
Am 28. Dezember beginnt der Karneval mit einem Vorkarneval, bei dem es darum geht, alle Menschen so nass wie möglich zu machen. Am Kinderkarneval am 3.Januar findet ein Umzug für Kinder statt und am 4.Januar der Umzug der Familie Castañeda, einer Familie, die 1928 zu diesem Karneval einlud und zu deren Ehren man sich heute immer noch verkleidet und schminkt.
Der 5.Januar ist der Tag der Schwarzen, an dem alle sich gegenseitig mit viel schwarzer Farbe anmalen, dasselbe, natürlich mit weißer Farbe, findet dann am Tag danach, am Karneval der Weißen statt. Zusätzlich werden Unmengen an Schaum versprüht, vor dem sich keiner mehr retten kann.


Dazu kommt noch, dass alle sich mit Mehl und Talk einpudern, selbst die kleinen Kinder und die ältere Generation.



Nach unserer 10 stündigen Busfahrt, bei der sich aus Sicherheitsgründen immer eine ganze Kolonne an Bussen sammelt, um gemeinsam das von der Guerilla besetzte Gebirge zu überqueren, haben wir fünf Freiwilligen (Ruth, Magdalena, Daria, Nora und ich) mit Luis, der mit uns nach Pasto gekommen ist, bei einer Familie, die uns zwei Zimmer vermietet hat, gewohnt. Besonders großes Glück hatten wir mit unseren Nachbarn, mit denen wir an mehrern Tagen zusammen zu Konzerten und zu Karnevalsumzügen gegangen sind und mit denen wir eine wunderschöne Zeit hatten.
Dadurch, dass Pasto ein Andendorf ist, gab es viele Konzerte mit traditioneller Musik, das bekannsteste und inzwischen wichtigste Lied für den Karneval in Pasto ist La Guaneña, zu dem andinische Tänze getanzt werden und das auch bei vielen Umzügen während des großen Festes auf traditionellen Instrumenten gespielt wurde.

La Guaneña:
Hier sind zwei Videos von Karnevalsumzügen zu sehen:
Unsere kleine Reise in die kalte Bergstadt Pasto war ein wunderschönes Ereignis, es bleiben Bilder voller Puder und Schaum, aber besonders voller Farben, Tanz und Musik.




Samstag, 14. Februar 2015

Silvester unter explodierenden Puppen

Bisher sind wir immer nur nach Montebello zum Colegio de las Aguas gefahren, doch nun war ich dort, um den Jahreswechsel 2014/2015 zu feiern. Mit Ruth, Magdalena und Anna, drei Freundinnen und Mitfreiwilligen, haben wir die Familie eines Kolumbianers besucht und ich habe Montebello, das Dorf, in dem ich in Zukunft arbeiten werde, einmal von einer ganz anderen Seite kennengelernt. An einem „normalen“ Tag sind zwar viele Menschen in den Straßen unterwegs, doch nie hätte ich gedacht, dass so viele Menschen dort leben würden. Alle strömten aus ihren Häusern, um gemeinsam das Jahr 2014 mit allen schönen Erlebnissen und Erfahrungen zu beenden, aber auch damit abzuschließen, an das man sich nicht gerne erinnert. Was wird einen wohl im nächsten Jahr erwarten?
Von Montebello aus konnte man wunderschön auf ganz Cali schauen und die vielen Feuerwerke angucken. Die (verbotene) Tradition der Puppen, die mit Schwarzpulver gefüllt angezündet werden, um alles aus dem vergangenen Jahr, an das man sich nicht gerne erinnern mag, wortwörtlich in die Luft zu jagen, wurde in Montebello ohne Bedenken um die vielen Kinder ausgelebt. Ein lauter Knall folgte auf den Anderen und die vielen brennenden Puppen machten die Straßen, durch die wir alle liefen, nicht unbedingt angenehmer. Aber diese Tradition hat auch etwas Hoffnungsvolles, Ermutigendes.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Montebello eines der ärmsten Viertel Calis ist und wir uns kaum vorstellen können, welche Gedanken und Erinnerungen das Dorf an das vergangene Jahr hat, welche bleiben und nie verschwinden werden. Noch nie habe ich so ein bedrücktes und bewegendes Silvester erlebt.

Weihnachten mit Salsaklängen

Wir kennen Weihnachten als das Fest der Familie, Ruhe kehrt ein, man singt Weihnachtslieder und jeder freut sich nach den vielen Keksen auf das traditionelle Weihnachtsessen. Nora und ich waren zu diesem besonderen Fest bei unserem Freund Luis eingeladen und waren ziemlich gespannt, welche Stimmung und welche Traditionen uns hier erwarten würden.
Zwischen dem 16. und 24. findet jeden Tag eine Novena statt, ein Beisammensein mit der ganzen Familie, um immer einen Teil der Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Es wird gebetet und die traditionellen Lieder gesungen, „ven a nuestras almas, ven no tardes tanto...“. „Komm in unsere Seelen, komm nicht so spät“.  
Die Novenas finden an den neun Tagen vor Weihnachten statt, weil damit an die neun Schwangerschaftsmonate der Jungfrau Maria gedacht wird. An einer dieser Novenas habe ich bei Luis und seiner Familie auch teilgenommen und auf zwei haben wir als Freiwilligengruppe in einem Kaufhaus gesungen. Ein Teil davon ist auf dem Adventskalendervideo vom 24.12.14 zu sehen (Spendenadventskalender-Blog mit vielen spannenden Geschichten, Fotos und Videos, das Passwort gibt es bei mir).
Als wir nun bei der Familie ankamen, erwartete uns ein Fest mit Salsamusik, zu der die ganze, große Familie mitgesungen hat, während alle Weihnachtsreis, Fleisch, Obstsalate und unsere selbst zubereiteten Salate und deutsche Leckereien genossen haben. Der traditionelle Weihnachtsreis ist zwar salzig, aber mit Panela (zubereiteter, brauner Zucker) gewürzt. Es wurde wieder gebetet und so langsam verstehen wir auch die selten benutzen Weihnachtsvokabeln wie zum Beispiel „Belen“ (Bethlehem). Von anderen Freiwilligen habe ich gehört, dass sie bei ihren Mentoren der Einsatzstelle oder von anderen Freunden eingeladen worden sind und zum Teil ein Fest gefeiert haben, das eher an Silvester erinnert hat. Es fanden Feiern mit Unmengen an Alkohol statt, zu denen ausgiebig Reggaeton getanzt wurde.
Unser Gasharn, der uns für ein paar Tage abgeschaltet wurde, weil wir nicht rechtzeitig die Rechnung bezahlt haben, wurde erst am Tag vor Heiligabend wieder aufgedreht, sodass wir alle auf die Schnelle noch Plätzchen, Zimtschnecken oder andere Leckereien zum Mitbringen zaubern wollten. Mit 30 Menschen in einer Küche mit zwei Öfen, jedoch nur einem Blech, ist das ein Stress, den ich so in Deutschland an Weihnachten vorher kaum erlebt hatte.
Die Stimmung am heiligen Abend war schön, sehr locker und entspannt, und wir haben uns alle sehr wohlgefühlt, obwohl immer noch nicht die gewohnte Weihnachtsstimmung aufkam, die wir uns vorher ein bisschen versucht haben aufzuzwingen. In unserem WG.-zimmer hatten wir eine Lichterkette, die sogar blinken konnte, aufgehängt, und natürlich habe ich auch Transparentpapiersterne für das Fenster gebastelt. Oft wurde ich gefragt, ob ich nicht das gewohnte Weihnachten in Deutschland vermisse, aber das kann ich nicht behaupten. Ich bin froh, dass es das Fest, so wie es ist, gibt, und ich es so kennenlernen durfte. Für mich ist es spannend zu sehen, wie wichtig Weihnachten hier ebenfalls ist. Ein bisschen überrascht war ich über den Kunstschnee im dauerhaft warmen Cali, der in allen Schaufenstern zu sehen war.
Gleich am Tag nach Weihnachten fing dann die Feria de Cali an, vielleicht das größte Fest Calis überhaupt. Es gab Unmengen an Konzerten, auf denen Salsa oder Bachata getanzt wurde. Jegliche Caleña-Spezialitäten (typische Leckereien aus Cali) wurden an allen Ecken verkauft und eine ganze Stadt war für ein Woche komplett im Feria-Modus. Es gab Umzüge mit riesigen Wägen, auf denen professionelle Tänzer Salsa getanzt, oder bekannte Bands gespielt haben.
All die Farben, die Tänze und die Musik formten zusammen eine unbeschreibliche und fröhliche Atmosphäre, die Cali einen besonderen Glanz verliehen hat. Immer wieder würde ich wieder kommen, um das noch einmal erleben zu dürfen.



Dienstag, 2. Dezember 2014

Adventskalenderaktion!

Liebe Helfer,
Seht doch mal unter der Rubrik "Spendenaktion" nach, denn dort gibt es Neuigkeiten:
Bei jeder Spende gibt es das Passwort für eine Sonderaktion, den Adventskalenderblog, den wir Freiwillige zusammen für Euch gestalten!
Jeden Tag im Advent erscheint dort eine Geschichte oder ein Video von unserem Leben hier und natürlich Fotos.
https://widget.helpedia.de/spenden-aktionen/musikraum-montebello?hash=ndz
Seid ihr dabei?
Eure Sophia und das Team "Musikraum Montebello"
Beim Weihnachtsbaumschmücken bei Luis, unserem Freund, es blinkt und glitzert, schön, ne?

Sonntag, 30. November 2014

Wie alles nach zwei Monaten aussieht

Was denkst Du über Kolumbien? Was denke ich über Kolumbien und wie ist es nun wirklich?
Regelmäßig erreichen Schreckensmeldungen deutsche Nachrichtensender, Morde, riesige Drogenlandungen verschwinden im Hamburger Hafen, direkt aus Kolumbien importiert, und immer wieder die schlechte Nachricht, wenn die Guerilla, die kolumbianische Drogenmafia, wieder an Stärke gewinnt.
Im Gegensatz dazu erzählen wir von wunderschöner Natur, von Menschen, die so viel Positives in sich tragen, ihr Hab und Gut mit uns teilen, obwohl es oft nur wenig ist; oder von dem tanzenden Volk, das sich so wunderbar bewegen kann und die Emotionen mit jedem Tanz nur so heraus sprühen.
Ja, tatsächlich hat dieses Land beide Seiten, die erschreckende, aber auch die wunderschöne. Wenn man zum ersten Mal hier in diesem fernen Land ist, erscheint einem alles wie in einem Traum. Mir hat so vieles sofort gefallen, doch ich glaube, viele Sachen habe ich mir schöngeredet, habe mich vielleicht von den Kolumbianern anstecken lassen und mich über das gefreut, was gut ist, doch nach und nach passieren Dinge, die mich wach rütteln, die einem sagen, wo wir sind: in einem Zentrum der Bandenkriege, der Armut und der Gewalt. Manchmal sagen wir, wir sehen alles, aber doch nichts. Wir sind hier und können alles mit eigenen Augen anschauen, aber so vieles passiert hinter den Kulissen, hinter dem Schleier, der uns vorgehalten wird. Gerade in dieser Zeit steigt die Arbeitslosenzahl sehr hoch, weil viele Menschen Jahresverträge haben und die jetzt auslaufen.
Für uns Deutsche ist das alles manchmal sehr schwer zu spüren. Mehrmals wurde nachts an unserer Tür gerüttelt, am Anfang blieb einem noch das Herz stehen, beim dritten oder vierten Mal wartet man nur noch, bis es vorbei ist. Eine von uns wurde schon früh morgens ausgeraubt. Auf den Straßen begegnen einem die hungernden Blicke der Heimatlosen, die auf dem Boden bei den Ameisen liegen und nach Wasser fragen. Diejenigen von uns, die in Siloé, einem der ärmsten Viertel Calis, arbeiten, bekommen noch mehr von der Gewaltrealität mit. Schießereien, Menschen, die mit blutverschmierten Augen verschwinden. Neulich ist wieder ein zwölfjähriges Mädchen aus versehen erschossen worden, es stand zur falschen Zeit am falschen Ort. Ist es normal, dass in einer Woche in einer Stadt von 2,6 Millionen Einwohnern vierunddreißig Menschen ermordet werden? Natürlich nicht, aber hier ist es die Realität, vielleicht sogar die Normalität.
Als ich im ersten Monat gefragt habe, warum ich nicht alleine von meiner Arbeitsstelle zum Jeep laufen darf, mit dem ich nach hause fahre, obwohl es ein Fußweg von zwei Minuten ist, wurde mir so einiges bewusst: Ich arbeite in einem Ort, in dem Auftragsmörder wohnen. Sie sind noch nicht einmal teuer. „Letzte Woche wurde wieder jemand hier ermordet, aber das passiert natürlich nicht immer“, wurde mir erzählt. Und hier sollte ich nun tagtäglich arbeiten? Ja, und nun ist es schon so normal, die Menschen kennen und grüßen mich, die Kinder freuen sich, mich auf der Straße zu sehen, die Mütter lächeln einen dabei an, was sie sonst nicht tun würden, wenn ihre Kinder nicht so vertraut mit mir wären. Ich fühle mich tatsächlich inzwischen sehr wohl hier in Bellavista, dem Ort in dem ich arbeite.
Mit den Kindern meiner Einsatzstelle rede ich viel über ihre Familien. Manchmal überlegen wir, wie die Menschen mit den Gefahren und den Geschehnissen zurecht kommen und inzwischen wissen wir: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, aber er kommt damit nicht zurecht. Doch diejenigen, die an der politischen und sozialen Situation etwas ändern wollen, können es nicht, und die, die etwas ändern könnten, wollen es nicht. Wo sollte man also anfangen? Mit drei Jungs aus meiner Freiwilligengruppe war ich zusammen mit der Einsatzstelle des einen auf einem Ausflug. Es ist eine Fundacion, die sich um Jugendliche und junge Erwachsene kümmert, die nicht mehr zur Schule gehen und keine Zukunftsperspektive mit Arbeit finden können. Davon gibt es viele hier, sehr viele, aber für ein paar von ihnen lassen sich Wege finden, die aus der Zwickmühle zwischen Armut, Kriminalität und Gewalt herausführen. Wir sind mit dem Bus in einen Freizeitpark gefahren, haben dort Fußball und Tischtennis gespielt und sogar baden konnten wir in einem großen Pool. Doch nach einer Busfahrt mit der Gruppe sind mir fast die Ohren abgefallen. Ich denke darüber nach, warum erwachsene Menschen zwischen 20 und 30 Jahren so unglaublich laut sind und ich mich wie auf einer Klassenfahrt nach einer zehnstündigen Busfahrt fühle. Und warum sind die Kinder aus meiner Musikschule so anders, so ruhig und konzentriert, obwohl viele vergleichbare Dinge schon im Kindesalter erlebt haben. Wir können stundenlang ruhig auf einen Auftritt warten oder ein zweistündiges Konzert spielen, ohne, dass jemand anfängt, herumzubrüllen.
Ferienentlassungsfeier im Colegio de las Aguas Montebello
Ich glaube, es ist die Musik, die die Kinder so verändert, die sie so verantwortungsvoll und selbstkontrolliert erscheinen lässt. Dadurch, dass sie Wertschätzung erleben, können sie das anderen gegenüber weitergeben. Das Gefühl, wichtig zu sein, denn in einem Orchester ist jeder unverzichtbar, gibt den Kindern und Jugendlichen so viel Selbstbewusstsein, um für ihre Zukunft zu kämpfen und sie in die eigene Hand zu nehmen. Jemand anderes übernimmt das nicht, denn die Eltern sind selbst dem ständigen Kampf um Arbeit ausgesetzt. Es gehört zur Normalität, dass Kindern die Eltern fehlen, besonders oft bekomme ich zu hören, dass ein Vater nicht mehr da ist. Der Satz eines Lehrers hat es auf den Punkt gebracht: „Die Frauen müssen um die Männer kämpfen, denn es gibt nur wenige von ihnen“. Dabei hat er gelacht. Erst war ich nicht ganz sicher, was er damit meinte, aber schnell wurde mir sehr bewusst, wo all’ die Männer hin sind... Noch nicht lange ist es her, da habe ich mit einer Schülerin geredet, Smalltalk über die Familie. Dass sie ungefähr zwanzig Cousins und Cousinen hat, aber nur eine Tante, machte keinen Sinn, doch dann fiel ihr noch ein, dass sie einmal zwei Onkel hatte, die aber nicht mehr leben. Sie erklärte es mir so: „Drogas“. Was genau dahinter steckt, weiß ich nicht.
Die Kinder aus meiner Fundación sind mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen. Ich habe die Hoffnung, dass aus ihnen andere Menschen werden. Menschen, wie sie es in diesem Moment gerade sind, wenn die Zukunft noch nicht in ihren Händen liegt. Manche träumen davon, Musik zu studieren, andere wollen zur Marine oder Koch werden. Oft hört man, „Ich will studieren“, doch das ist sehr schwierig, wenn man aus armen Verhältnissen stammt. Nur diejenigen, die die besten Abschlusszeugnisse haben, dürfen sich für ein Stipendium bewerben. Doch auch dann muss ein Eigenanteil aufgebracht werden, der für viele nicht möglich zu machen ist. Für den Großteil der Jugendlichen ist es noch unmöglicher zu studieren, weil sie die Schule mit zu schlechten Zeugnissen beendet haben. Doch ich weiß, die Kinder wissen wie man kämpft. Genauso, wie sie für ein Konzert üben müssen, bei dem sie alle ein wichtiger Teil des Gesamtklanges sind, müssen sie für ihre Zukunft kämpfen. Und das haben sie in der Fundación Notas de Paz gelernt. Die Lehrer hier leben es ihnen vor, motivieren sie, zeigen ihnen, wie man etwas erreicht. Und ich bin froh, dass die Kinder von Bellavista das so erleben dürfen, denn in den Schulen sieht es oft schon ganz anders aus.
Das ist aber auch der Grund, warum ich mich oft überflüssig fühle. Das, was ich vermitteln möchte, ist in dieser Fundación schon längst Normalität. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, Eigenverantwortung und ein respektvoller Umgang sind die höchsten Regeln und das ist gut und richtig. Daher sind meine Pläne, nach Weihnachten, wenn die Ferien zu ende sind, mehr im Colegio de las Aguas in Montebello zu arbeiten. Bis dahin werde ich die Ferienbetreuung für die Kinder von Montebello mitgestalten. Die Schule hat ein Interesse daran, den Musikunterricht dort weiter auszubauen. Instrumente werden zum Teil von einer anderen Institution gestellt, die von meinem Dirigenten des Orchesters hier in Bellavista geleitet wird. Vielleicht kann ich das musikalische Fundament, das in Montebello schon vorhanden ist, weiter mit ausbauen, um langsam dort hinzuarbeiten, wo die Kinder der Fundación Notas de Paz schon sind. Montebello ist eines der ärmsten Stadtteile Calis. Eine Familie mit Kindern braucht dort in der Woche umgerechnet circa acht Euro für alles, unvorstellbar aber wahr.
Bisher gibt es schon Gitarren-, Flöten-, Cello-, Trompeten- und Geigenunterricht. Gerade ist eine neue Spende von fünf E-Pianos eingetroffen, die darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Es ist ein Traum, dass sich bald auch dort die Klänge von verschiedenen Instrumenten und Stimmungen mischen. Klaviermusik klingt gerade in diesem Moment in meinen Ohren mit dem Trommeln einer Pauke und den sich immer wieder wiederholenden Töne einer kleinen Geige. Genau diese Pläne und Hoffnungen für Montebello teile ich mit vielen anderen, nur ist der Musikraum noch nicht ganz fertig und an der Ausstattung fehlt es ebenso. Dies ist der Raum, für den auch ihr mitkämpft, indem ihr gespendet habt. Immer wertvoller werden all’ diese Spenden inzwischen, da ich mit eigenen Augen sehen kann, was es bewirkt, Musik mit den Kindern zu machen. Ich bin sehr dankbar, dass so viele Menschen uns vertrauen und es möglich machen, dass wir mehr Raum schaffen, um Montebello zum Klingen bringen.
Musik bedeutet Frieden und Zusammenhalt, eigene Stärke und Harmonie, die Welt der Klänge bietet Raum für Umgänglichkeit und gegenseitige Hilfe statt dem Kampf um die eigene Person, um das eigene Überleben und das eigene Leben.

Montag, 24. November 2014

Geburtstagswünsche...

Es ist Mittagspause. Gleich nebenan gibt es einen kleinen Imbissladen, in dem es ziemlich typisch kolumbianisches Essen gibt. Reis Fleisch, Linsen und Salat, als Vorspeise Suppe mit gestampftem Mais. Auch die Platanochips (frittierte, salzige Bananen) fehlen zum Glück nicht, denn die mag ich besonders. Zum trinken wird Agua Panela serviert, Wasser mit Limettensaft und Rohrzucker, denn das wächst hier außerhalb von Cali in großen Mengen.
Plötzlich höre ich ein leises, zartes Stimmchen sprechen. „Hola Sofi“. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das Mädchen schon einmal gesehen habe, aber sie weiß meinen Namen, vielleicht geht sie auf die Schule in Bellavista, dem Ort, in dem ich arbeite. Diese Schule hatte ich mir für zwei Tage angeschaut, um nach einer weiteren Arbeitsstelle zu suchen.
Ich frage sie, was sie hier macht und wundere mich kaum, dass sie mir erzählt, dass sie ihrer Mutter helfe, die für mich kurz vorher das Essen zubereitet hat. Ihre große Schwester auch. Wir reden über die Ferien, die ab morgen anstehen und ich frage mich, was sie wohl die ganze Zeit allein machen würde. Wahrscheinlich das, was sie gerade in diesem Moment macht: warten, bis die Zeit vergeht. Ihre Augen fangen an zu leuchten und voller Stolz erzählt sie mir, dass sie mit ihrer Mutter und ihren beiden großen Schwestern ins Schwimmbad fahren wird. Ich frage sie, wo es eines gibt, aber das kann sie mir nicht sagen, denn vermutlich hat sie außer diesem Stadtteil noch fast keinen anderen Teil von Cali gesehen, wie viele Kinder hier in Bellavista.
Wir nehmen uns vor, dass ich öfter bei ihr vorbeikommen werde, damit wir gemeinsam Englisch üben können. Schon gleich fangen wir mit den Farben auf englisch an und probieren es dann mit den Tieren, aber mein Wortschatz ist nicht für die tropische Tierwelt ausreichend.
Ihre großen, dunklen und wunderschönen Augen schauen mich an, ganz schüchtern. Sie will mir was sagen: „Ich habe morgen Geburtstag!“. Neun Jahre alt wird sie. Sie fragt mich, ob ich sie besuchen kommen werde, um mir ihrer Mutter und den beiden Schwestern beisammen zu sein. Ich erschrecke mich, dass es mich kaum mehr überrascht, dass ein Papa wohl nicht mitfeiern wird.
Ich frage natürlich nicht danach, aber was ich wissen will ist, was sich diesen Mädchen wohl wünscht. Ich denke an meine Kindheit, an die Wunschlisten, die meine Freunde zu jedem Geburtstag und zu jedem Weihnachtsfest geschrieben haben. Ein Ponyhof von Playmobil, Puppenbetten, eine elektrische Eisenbahn oder ein Fußball. Ich weiß, dass ihr Wunschzettel anders aussehen würde, aber ich kann meinen Ohren nicht trauen, als ich höre, dass sie sich einen Termin beim Zahnarzt wünscht...